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Unternehmenskultur in Prozent. Wie messbar ist der “weiche” Faktor?


Gastbeitrag von 

Inike Rosenbach

Head of People & Organisation bei GG Brands GmbH

Dipl. Kulturwissenschaftlerin

www.missionsustainable.de


Geld regiert die Welt, sagt ein altes Sprichwort, aber das stimmt zumindest im Hinblick auf Jobentscheidungen  nur zum Teil. Zu diesem Ergebnis kommt der Gehaltsreport 2021 von StepStone: Neben dem Gehalt spielt auch die Unternehmenskultur eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Das deckt sich mit meiner persönlichen Erfahrung aus dem Recruiting. Wenn die Aufgabeninhalte, Unternehmensmarke und Unternehmenskultur attraktiv genug sind, entscheiden sich viele Menschen auch für einen Job, bei dem sie etwas weniger Geld verdienen als bei einem Wechsel zum Mitbewerber mit geringerem Sympathie- oder Coolness-Faktor. Weshalb wollen Unternehmen den Gehaltsrahmen bei Stellenausschreibungen nicht veröffentlichen? Ein Grund ist sicherlich, dass sie darauf setzen, zuerst mit ihrem Charakter zu überzeugen, als direkt mit den viel zu vergleichbaren hard facts ins Rennen zu gehen.

 

Doch wie ein Unternehmen wirklich “tickt”, ist für Bewerbende jenseits von blumigen Employer-Branding-Floskeln meist nur schwer zu erkennen. Oft fällt es Unternehmensführer:innen, Führungskräften und Mitarbeitenden sogar schwer, die eigene Kultur in Worte zu fassen. Noch schwieriger wird es, wenn daraus Merkmale für eine Passung abgeleitet und diese im Auswahlprozess überprüft werden sollen.

Wer bin ich und wer will ich sein?

Kulturanalysen sind aufwändig. Sie machen nur Sinn, wenn es einen Grund für eine Auseinandersetzung mit dem Thema gibt, z.B. weil sich die Herausforderungen an das Business verändert haben, ein Verkauf oder Managementwechsel stattgefunden hat oder eine neue Strategie oder Werte wie Nachhaltigkeit implementiert werden sollen. Oft beginnt eine Beschäftigung mit dem „weichen“ Thema daher mit einem bereits identifizierten Painpoint: Die Geschäftsführung diagnostiziert vielleicht Lethargie in der Belegschaft, eine mangelnde Innovationsleistung, es gibt eine hohe Fluktuation oder Abwesenheitsquote im Unternehmen, Stellen können nur schwer besetzt werden, Konflikte zwischen einzelnen Abteilungen stören die Zusammenarbeit, es gibt Beschwerden von Kunden oder es kommt zu geschäftsschädigenden Compliance-Verstößen, Sicherheitsmängeln oder Unfällen. In all diesen Fällen wird es wichtig, sich mit der Ist-Kultur auseinander zu setzen, damit Abweichungen zur Ziel-Kultur ermittelt und Veränderungsmaßnahmen entwickelt werden können.

 

Doch wie kann man die IST-Kultur analysieren, um herauszufinden, ob die Unternehmenskultur für die Zielgruppe interessant ist, ob sie dem Business dient oder schadet? Kann man Kultur mit quantitativen Methoden messen und auf einer Skala von 1-5 oder in Prozent ausdrücken? Oder ist es besser, ihr mit qualitativen Methoden auf den Leib zu rücken?

 

Um einen Teil der Antwort vorwegzunehmen: Natürlich kann man Kultur messen. Wo ein Wille ist, findet sich immer auch eine Zahl. In der Praxis wird zudem schon fleißig gemessen, sowohl von Wissenschaftler:innen als auch in Organisationen. Werfen wir einen Blick auf verschiedene Ansätze, was sie leisten können und was nicht:

1. Vergleichende Kulturstudien

Verschiedene Organisationsforscher haben in der Vergangenheit Unternehmenskulturen mittels statistischer Befragungen untersucht und auf Basis der Ergebnisse Modelle entwickelt, anhand derer Unterschiede und Gemeinsamkeiten verschiedener Kulturen abgebildet werden können.

 

Geert Hofstede untersuchte zum Beispiel Ende der 1960er Jahre, wie sich nationalkulturelle Unterschiede innerhalb des gleichen Unternehmens, in diesem Fall IBM, zeigen. Hofstede führte eine empirische Studie unter den IBM-Mitarbeitern aller Länder durch und entwickelte auf Basis der Ergebnisse ein Kulturmodell mit sechs Dimensionen (Individualismus – Kollektivismus, Machtdistanz, Maskulinität – Femininität, Unsicherheitstoleranz, Kurzfristige – Langfristige Orientierung, Genuss – Zurückhaltung). Später ergänzte er seine Forschungsarbeiten um eine Untersuchung unterschiedlicher Unternehmen, die ähnlichen Nationalkulturen angehörten. Es zeigte sich, dass sich die sechs Kulturdimensionen aus der IBM-Studie nicht einfach auf Organisationskulturen übertragen ließen. Es ergaben sich sechs neue Dimensionen mit jeweils gegensätzlichen Polen, anhand derer Unternehmenskulturen eingeordnet und verglichen werden konnten (Prozessorientierung – Ergebnisorientierung, Mitarbeiterorientierung – Joborientierung, Parochial (Organisation) – Professionell (Karriere), Offen – Geschlossen, Straff – Locker, Normativ – Pragmatisch). Eine größere Rolle für den Ausschlag in die eine oder andere Richtung der Dimensionen spielte dabei die Branchenzugehörigkeit.

Andere Wissenschaftler:innen haben ähnliche oder ergänzende Dimensionen zum Vergleich von Organisationskulturen entwickelt. Ein Messinstrument, das mit standardisierten Fragebögen arbeitet und zum Vergleich von Unternehmenskulturen herangezogen werden kann, ist z.B. die Kulturskala zur Erfassung der Unternehmenskultur (KUK). Abgefragt werden die Einschätzungen der Mitarbeitenden in den Themenfeldern Strategie, Struktur und Interaktion (Führung und Zusammenarbeit). 

 

Der Einsatz standardisierter Befragungen führt zu einer guten Vergleichbarkeit von zwei oder mehr Unternehmen, einer sich veränderten Kultur im Zeitverlauf oder auch von Subkulturen in Abteilungen oder an verschiedenen Standorten. Das kann insbesondere bei der Verschmelzung von Unternehmen oder für die Begleitung von Change-Prozessen interessant sein. Die Aussagekraft bleibt aber auf die vorgegebenen Dimensionen beschränkt, was passend sein kann, die Fragestellung aber auch verfehlen.

2. Self-Assessments für Bewerbende

In ähnlicher Weise funktionieren Tools, die Unternehmen auf ihrer Karriereseite anbieten, um Bewerbenden die Chance zu geben, ihr Matching zur Kultur in einem etwa zehnminütigen Test durch Hin- und Herschieben von Reglern zwischen zwei Polen zu testen. Die Interessenten können damit herausfinden, wie gut sie zur Unternehmenskultur passen. Ich finde das persönlich sehr interessant, habe auch schon den einen oder anderen aus Neugier ausprobiert, bin aber skeptisch bezüglich der Aussagekraft. Alleine, weil bei zwei Versuchen mit etwas zeitlichem Abstand (zumindest bei mir), bestimmt unterschiedliche Ergebnisse herauskommen würden. Als Bewerbende stellt sich mir auch die Frage, wie wählerisch ich sein soll? Reicht mir eine irgendwie abstrakt bleibende 74 %-ige Übereinstimmung mit der Unternehmenskultur, wenn der Job und das Unternehmen ansonsten sehr spannend sind? Umgekehrt braucht ein Unternehmen schon etwas Mut oder muss es sich leisten können, den vielleicht letzten Software Developer von einer Bewerbung abzuhalten, weil das Selbsttestergebnis des Kandidaten zu 20 % von dem Work-Life-Balance-Wert abweicht, der für die Organisationskultur als passend definiert wurde.

 

Warum nicht lieber den Bewerbenden eine Beschreibung der wichtigsten kulturrelevanten Werte, Erwartungen, Kompetenzen und die Arbeitsbedingungen auf der Karriereseite oder in der Stellenanzeige schildern? Hat jeder Mitarbeitende, der das möchte, noch einen eigenen Arbeitsplatz? Wird in Einzelbüros oder im Open Space gearbeitet? Wie viele Tage pro Woche kann ich mobil arbeiten, wie flexibel kann die Arbeitszeit eingeteilt werden, gibt es einen Dresscode? Sind private Bilder und Gegenstände auf dem Schreibtisch erlaubt oder herrscht eine Clean-Desk-Policy? Ein Beispiel könnte so lauten: Du hast bei uns die Möglichkeit, zwei Tage pro Woche von zu Hause aus zu arbeiten. Unsere Kernarbeitszeit liegt zwischen 9:00 Uhr und 18:00 Uhr abzüglich einer einstündigen Mittagspause zwischen 12:00 und 13:00 Uhr. Überstunden werden gerne gesehen. Diese kannst du ganz flexibel vor oder auch nach der Kernarbeitszeit erbringen…. Okay, zugegeben, vielleicht ist eine prozentuale Angabe zur Work-Life-Balance manchmal doch die bessere Alternative. So ein Interpretationsspielraum hat schon was.

3. Kulturbewertungen durch Arbeitnehmende

Manche fürchten, andere belächeln ihn, wiederum andere kennen ihn immer noch nicht: Die Rede ist vom kununu-Score. Auch wenn es keine Darstellung der Unternehmenskultur auf der Karriereseite gibt, ist es für Bewerbende heute durch Unternehmensbewertungsplattformen wie kununu und glassdoor etwas leichter geworden, Einblicke in die Kultur, die aktuelle Stimmung und Atmosphäre potenzieller neuer Arbeitgeber:innen zu gewinnen. Auf kununu können ehemalige und aktuelle Mitarbeitende die Unternehmen mit Sternen von 1-5 bewerten. Außerdem können die Bewertenden individuelle Einschätzungen zu den Themenbereichen Unternehmenskultur, Vielfalt, Arbeitsumgebung, Karriere und Gehalt als Freitext hinterlassen. Vergleichbar werden die Unternehmen über den Durchschnitts-Score ihrer Bewertungen. Die Aussagekraft des Scores hängt dabei stark von der Anzahl der Teilnehmenden ab und ob künstlich positive Bewertungen motiviert wurden. Außerdem mischen sich in den Score die Bewertungen vieler Jahre – in einem aktuellen Score schwingen also immer noch schlechte oder gute Bewertungen seit Anbeginn der Präsenz des Unternehmens auf kununu mit. Und in der Zwischenzeit kann viel passiert sein. Für Bewerbende macht es daher mehr Sinn, sich die neueren Einzelbewertungen anzugucken und auch nach Unternehmensbereich oder Standort zu differenzieren. 

 

Ob sich in den Unternehmensbeschreibungen der Eindruck des Großteils der Belegschaft wiederfindet oder nur einzelner Unzufriedener, bleibt dem Urteil der Leser:innen überlassen. Denn die Stärke der Freitextbewertungen ist zugleich ihre Schwäche: Die subjektiven Eindrücke einzelner Bewerter:innen kann sehr detaillierte Einblicke in ein Unternehmen ermöglichen. Oft sagen die Bewertungen aber genauso viel über die Bewertenden und ihren Erfolg im Unternehmen aus wie über das Unternehmen selbst.

2019 hat kununu das Angebot für Bewerbende und Unternehmen um den wissenschaftlich solide fundierten Kulturkompass als Instrument für Kultur-Einblicke ergänzt. Der Kulturkompass bietet aktiven und ehemaligen Mitarbeitenden die Möglichkeit, ihre Unternehmen anhand von vier Dimensionen mit jeweils zwei Gegensatzpolen zu vergleichen, die aus Sicht der Arbeitnehmenden besonders relevant sind: Die Haltung zur Work-Life-Balance mit den Polen Für den Job – Für mich, Umgang miteinander mit den Polen Resultate erzielen – Zusammen arbeiten, Führung mit den Polen Richtung vorgeben – Mitarbeiter beteiligen und Strategische Richtung mit den Polen Stabilität sichern – Veränderungen antreiben. Die Bewertenden wählen dazu aus 160 Wertbegriffen (vier x 40) jeweils fünf bis zehn aus, die das Verhalten sowie Einstellungen innerhalb der Organisation am passendsten beschreiben. Da die Auswahl eingeschränkt ist, kristallisieren sich auf dem Unternehmensprofil im Laufe der Zeit die am häufigsten genannten Kulturelemente der Organisation heraus. Die Wertbegriffe lassen sich den vier Bereichen zuordnen, wobei die beiden Gegensatzpole entweder als traditionell oder modern eingestuft werden. Am Ende zeigt die Kompassnadel an, wo sich das Unternehmen im Branchenvergleich auf der Skala zwischen Tradition und Modernität verorten lässt. Die Aussagekraft hängt hier wiederum von der Anzahl der Bewertenden innerhalb eines nicht zu breiten zeitlichen Rahmens ab. Die Stärke des Kulturkompasses liegt in der Möglichkeit für Außenstehende, Unternehmen grob zu vergleichen. Wenn mir A schon zu wenig modern war, wird es mir bei B evtl. noch schlechter gefallen.

4. Organisationale Gesundheits-Check-ups

Es gibt mittlerweile eine große Anzahl von SaaS-Anbietern wie z.B. Glint, Culture Amp, Leapsome oder Peakon, die vorgefertigte und individualisierbare Module für Mitarbeiterbefragungen oder Pulse-Checks zu Themen wie Betriebsklima, Engagement, Motivation oder Arbeitszufriedenheit anbieten. Auch klassische Tools für Online-Umfragen wie LamaPoll oder SurveyMonkey können zum gleichen Zweck verwendet werden. 

 

Die Organisation beim Gesundheits-Check-Up: Zeigen sich Wachstumsschmerzen? Sorgen Change-Prozesse für Unzufriedenheit? Droht in einigen Abteilungen gar das gefürchtete Wechselfieber? Im Kern geht es um die Früherkennung, Reduzierung und Vermeidung von Fluktuation, Absentismus und Demotivation bis zur inneren Kündigung. Themen, die für jedes Unternehmen wichtig sind. 

 

Durch Mitarbeiterfeedbacks lässt sich erkennen, dass es Schmerzpunkte gibt und – wenn individuell und offen genug nachgefragt wird – wo diese liegen. Durch die Anonymität der Befragungen kommen leichter Themen ans Licht, die sonst nicht offen angesprochen werden. Das ist besser als abzuwarten, wie sich die Zahl unerwünschter Kündigungen, die Frühfluktuation und Abwesenheitsquoten in der Realität gestalten – vorausgesetzt, man kann tatsächlich schnell wirkungsvolle Maßnahmen ergreifen und die Ursachen beseitigen. Sonst wird im Worst-Case noch mehr Unruhe geschürt.

 

Ein umfassendes Verständnis einer Unternehmenskultur können die Befragungstools allerdings nicht bieten, da sie nur einzelne Elemente abfragen. Es werden eher die (kurzfristigeren) Symptome einer Kultur wie das Betriebsklima, Stimmung und Arbeitszufriedenheit untersucht, die eine Wirkung auf das Engagement entfalten. Die Befragungen verraten aber z.B. nichts über (oft aussagekräftige) Tabus und bleiben an der Oberfläche. Es wird schwer bis unmöglich sein, auf Basis dieser Daten z.B. den Bremsklotz für Innovationen zu identifizieren – vielleicht ist es gerade die hohe Zufriedenheit?

5. Kulturmessung ist ein Kulturelement

Ob eine quantitative Datenerhebung im Einzelfall sinnvoll ist, hängt letztlich davon ab, was genau gemessen werden soll und warum man es unbedingt messen möchte. Standardisierte Befragungen können nützlich sein, um verschiedene Kulturen zu vergleichen, die Wirksamkeit von Change-Maßnahmen zu überprüfen oder auch um die aktuelle Stimmung im Unternehmen zu erfassen. Ehemalige und aktuelle Mitarbeitende können durch ihre Bewertungen Unternehmenskulturen für Außenstehende etwas transparenter machen und den Unternehmen den Spiegel vorhalten.

 

Genau genommen, sagen bereits die Auswahl und Anwendung der jeweiligen Befragungs-Tools oder auch Reaktionen auf Feedbacks viel über die Unternehmens- und Führungskultur aus. Will ein Unternehmen überhaupt wissen, wie es den Mitarbeitenden geht? Was genau wird gemessen und erfragt und warum? Wie zahlenbasiert wird dabei vorgegangen? Werden wissenschaftlich fundierte Standard-Fragebögen oder individuell entwickelte Fragen verwendet? Werden anonyme Befragungen mit persönlichen Feedbackmöglichkeiten kombiniert? Wird ein Tool ausgewählt, das direkt mit Modulen zur Performance-Steuerung, Lern- und Führungskräfteentwicklung verbunden ist? Die Möglichkeiten sind vielfältig. Die Durchführung der Befragung stellt dabei immer schon eine Intervention dar – was erwünschte oder auch unerwünschte Folgen haben kann.

 

Standardisierte Erhebungen befriedigen nicht zuletzt ein kulturelles Bedürfnis, das für Wirtschaftsunternehmen typisch ist und dort auf fruchtbaren Boden fällt: Die Komplexität des Informellen wird reduziert, in die Sprache der Zahlen und Prozente übersetzt und vergleichbar gemacht.

Ist Kultur messbar?

Ich schulde noch eine Antwort auf die Ausgangsfrage: Kann man den „weichen“ Faktor Kultur messen? Leider gibt es darauf nur ein Jein. Mit standardisierten Verfahren lassen sich sicher die bewusst gewählten Werte und wahrnehmbaren Artefakte untersuchen, die im 3-schichtigen Kulturmodell von Edgar Schein die beiden oberen Ebenen einer Kultur ausmachen. Sie lassen sich bei den Mitarbeitenden abfragen und anhand der gewählten Dimensionen messen. Ihre Schwäche liegt jedoch darin, dass nur die vorab definierten Gegensatzpole geprüft werden, die in dem jeweiligen Modell vorgesehen sind. Um in die Tiefen einer individuellen kulturellen DNA vorzudringen, bieten sich qualitative Methoden an. 

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